Verfasst von: Dr. Who | 10.4.12

283 | Gefahr Pazifismus

Welt Online titelt am 09.04.2012:

Deutsche haben das Trauma von 1945 nicht überwunden

“Der Fall Grass: Damit der Antisemitismus des Literatur-Nobelpreisträgers den radikalen Pazifismus vieler Deutscher nicht beleben kann, sollten wir aufhören, von seinem Gedicht zu reden.” (Hans Ulrich Gumbrecht)

Wie beruhigend ist es zu wissen, dass der angebliche und neulich gekürte Literaturnobelpreis-Antisemit Günter Grass mit seinem Antisemitismus in seinem Gedicht “Was gesagt werden muss” dazu beiträgt, den Pazifismus vieler Deutscher zu intensivieren. Das freilich ist nun genau so gefährlich wie der Antisemitismus selbst. Bleibt der Aufruf: “Entscheiden Sie sich!”

Wir leben in einer Welt, deren Geist stecken geblieben scheint. Eine Welt, in der uns [Stanford]-Professoren versuchen glauben zu machen, dass die eigene Wahrnehmung unzuverlässig ist und dass wir völlig daneben liegen, wenn wir richtig liegen. Dass wir allerdings kollektiv manipuliert sind und ein über 60-jähriges Trauma haben, das es verhindert, uns selbst objektiv zu sehen, was uns in Folge zwingt, selektiv zu sein. Das uns pathologisch zu Tätern erklärt, wenngleich aus diesem Grunde nicht schuldfähig. Was dann allerdings Antisemitismus ausschließt, denn diese Tat kann nur im Vollbewusstsein begangen werden. Verminderte Schuldfähigkeit aus psychopathologischen Ursachen heraus kann nicht zu einer Verurteilung führen. Abschließend schreibt Herr Gumbrecht von Plausibilität. — Sehr beeindruckend.

Wir leben in einer Welt, in der so genannte Gelehrte suggerieren, dass man [sie] studiert haben müsste, um überhaupt mitreden zu können. Um qualifiziert zu sein. Guruismus. Kult. Erinnert das nicht an Religion? Möglicherweise Sektiererei?

Es ist eine Welt, in der Irrwitzigkeit Alltag ist. Auch der Gestalt, sich über Argumente zu duellieren. Um zu verwirren. Klarheit entsteht damit keine. Eine Welt, in der es um Rechthaben und nicht um die Tatsache subjektiver Realitätsbetrachtung geht, wie sie die Physik absolut zwingend nahelegt. Aber was hat schon Physik und Logik in einer Komparatistik-Debatte zu suchen? “Der Autor, [Hans Ulrich Gumbrecht] 1948 in Würzburg geboren, lehrt Komparatistik in Stanford. Im Sommer erscheint bei Suhrkamp "Nach 1945: Latenz als Ursprung der Gegenwart".

Es scheint eine Welt zu sein, in der man nichts und niemanden ernst nehmen kann. Außer sich selbst vielleicht. Eine Welt, in der jeder die Wahrheit für sich beansprucht – und meint, darüber publizieren zu müssen. Sind das Zeichen von Identitätskrisen?

Das einstige Weltbild zerfällt. Die Gefolgschaft steht Kopf, mindestens aber in Frage. Bisheriges hat keine Anziehungskraft mehr, währenddessen versucht wird, mehr oder minder mit Macht daran festzuhalten. Der Krampf wird gleichsam zum Kampf stilisiert. Untergangsszenarien allerorten. Vom New-Age-Wahn über den Währungscrash bis hin zu Auslöschungsszenarien apokalyptischen Ausmaßes, deren Ziel Israel ist.

Und nun setzt Grass noch eins drauf. Unverschämt! Oder?

Sind wir wahnsinnig geworden? Oder einfach nur verrückt?

Hans Ulrich Gumbrecht schreibt in Welt Online

Für Nazismus typische Mentalität

Es gibt konkrete Anlässe und Gründe zu behaupten, dass mit dem Brechen des Schweigens von Grass und anderen Deutschen im neunten Lebensjahrzehnt (Martin Walser kann es ja nicht lassen, mit einer ähnlichen Rolle zu spielen, obwohl er schon aus Altersgründen viel weniger zu verbergen hatte) eine für den Nazismus typische Mentalität zum Vorschein kommt, die sie geschickt in Latenz gehalten hatten.

Ein deutliches Symptom in dieser Hinsicht ist das Wort "Erstschlag", das in der fünften Zeile des Texts auftaucht. Abgesehen davon, dass es ja möglicherweise Bedingungen geben könnte, unter denen "Erstschläge" eine Berechtigung hätten, gehörte ihre Assoziation mit den Gegnern zum kontinuierlich ausgespielten Repertoire der nationalsozialistischen Kriegsrhetorik. Wenn immer das deutsche Militär seit 1939 andere europäische Nationen überfiel, waren diese Invasionen als Antworten auf "Erstschläge" inszeniert.

Vor allem aber kultivierten die Nazis eine Weltsicht, in der – wie bei Grass – pseudomoralische Über-Plausibilität objektive politische Komplexität unterlief. Eroberungskriege sollten die Deutschen als – ihre Vergangenheit moralisch korrigierende – "Grenzbegradigungen" verstehen (so wie bald schon Rückzug und Niederlage als "Frontverkürzungen" beschrieben wurden).

Welches Trauma von Herrn Gumbrecht gemeint sein könnte, wird hier sehr gut deutlich:

Psychologie der Massen | Psychiatrie und Menschenbild

Hoffen wir, dass das Trauma, bei dem sich manche meinen ständig gegen den imaginären Feind der Fehllei(s)tung positionieren (und “Frontverkürzungen” vornehmen) zu müssen, ein Ende findet. Dann hätten auch Professoren [für Komparatistik] wieder mehr Zeit für das Wesentliche.


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